Pflichtverteidigung


Es mag überraschen, aber tatsächlich findet die überwiegende Zahl der Strafverfahren in Deutschland ohne Beteiligung eines Verteidigers statt. Das Gesetz geht im Grundsatz davon aus, dass sich ein Beschuldigter auch selbst verteidigen kann. Nur unter bestimmten Voraussetzungen ist die Mitwirkung eines Verteidigers zwingend vorgeschrieben. Das Gesetz spricht in diesen Fällen von “notwendiger Verteidigung” (§ 140 StPO).

Liegt ein Fall der “notwendigen Verteidigung” vor, hat ein Beschuldigter immer einen gesetzlichen Anspruch auf einen Pflichtverteidiger. Anders als im Zivilprozess, wo die Gewährung von Prozesskostenhilfe von der Bedürftigkeit abhängt, und anders als in vielen ausländischen Rechtsordnungen, ist die Frage, ob ein Beschuldigter Anspruch auf einen Pflichtverteidiger hat, im deutschen Strafprozessrecht unabhängig von seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen.

In welchen Fällen habe ich einen Anspruch auf einen Pflichtverteidiger?

Ein Fall notwendiger Verteidigung liegt insbesondere in folgenden Fällen vor*:

  • Vorführung vor den Haftrichter zur Entscheidung über die Anordnung von Untersuchungshaft

Wenn Sie aufgrund eines richterlichen Untersuchungshaftbefehls von der Polizei festgenommen wurden, müssen Sie unverzüglich dem Haftrichter vorgeführt werden. Der Termin zur Entscheidung über die Anordnung von Untersuchungshaft, der sogenannte Vorführungstermin, darf nicht ohne Teilnahme eines Verteidigers durchgeführt werden.

  • Verbrechensvorwurf

    Ihnen wird ein Verbrechen vorgeworfen. Ein Verbrechen ist eine schwere Straftat (Raub, Drogenhandel, Totschlag etc.), die von Gesetzes wegen zwingend mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu bestrafen ist.

  • Schwere der drohenden Strafe

    Ab einer drohenden Freiheitsstrafe von einem Jahr gehen die meisten Gerichte von einem Fall der notwendigen Verteidigung aus.

  • Schwerwiegende sonstige Nachteile bei Verurteilung

    Ihnen drohen im Falle einer Verurteilung (neben der Strafe als solcher) sonstige schwerwiegende Nachteile. Zu nennen sind hier insbesondere:

    • Bewährungswiderruf

    • Berufsverbot

    • Aufenthaltsrechtliche Nachteile (Ausweisung bzw. Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis)

    • Entlassung aus dem Beamtenverhältnis

  • Besondere Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage

    Ihr Fall weist in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht besondere Schwierigkeiten auf.

  • Unfähigkeit zur Selbstverteidigung

    Sie sind aufgrund Ihres psychischen Zustands, aufgrund von Sprachbarrieren oder sonstigen Ihre Verteidigungsmöglichkeiten einschränkenden Umständen nicht in der Lage, die juristischen Aspekte des Falles zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren.


    *Die Auflistung erhebt ausdrücklich keinen Anspruch auf Vollständigkeit

Kann ich mir meinen Pflichtverteidiger aussuchen?

Sie können sich Ihren Pflichtverteidiger selbst aussuchen. Das Gericht hat Ihrem Antrag, Ihnen einen bestimmten Verteidiger Ihrer Wahl beizuordnen, grundsätzlich zu entsprechen, wenn dem kein wichtiger Grund entgegensteht (§ 142 Abs. 5 StPO).

Wenn Sie nicht bereits von sich aus einen Verteidiger beauftragt haben, wird das Gericht Sie in der Regel mit der Zustellung der Anklageschrift anschreiben und Ihnen Gelegenheit geben, einen Verteidiger Ihrer Wahl als Pflichtverteidiger zu benennen. Von dieser Wahlmöglichkeit sollten Sie unbedingt Gebrauch machen. Bleiben Sie untätig und benennen niemanden, wird Ihnen das Gericht nach Ablauf einer Frist, die in der Regel zwei Wochen beträgt, "irgendeinen" Verteidiger bestellen. Das muss nicht zwingend ein schlechter Verteidiger sein, dennoch besteht ein gewisses Risiko, dass sie an einen Richter geraten, der bei der Auswahl Ihres Verteidigers nicht unbedingt nach Kriterien verfährt, die mit Ihrem Interesse an einer bestmöglichen Verteidigung übereinstimmen. Ein strafrechtliches Mandat erfordert zudem ein besonderes Vertrauensverhältnis, dem viel bessere Chancen bestellt sind, wenn Sie sich Ihren Verteidiger selbst ausgesucht haben. Schon allein deshalb ist dringend zu empfehlen, die Wahl eines geeigneten Verteidigers nicht dem Gericht zu überlassen.

Wenn Sie gegenüber dem Gericht einen bestimmten Verteidiger benennen, sollten Sie mit diesem zuvor abgeklärt haben, ob er überhaupt bereit und willens ist, das Mandat anzunehmen bzw. zu welchen Konditionen. Denn erstens bestellt ein Gericht einen Verteidiger in der Regel nicht gegen seinen erklärten Willen, zweitens werden Sie mit einem Verteidiger, der das Mandat eigentlich gar nicht möchte, weil er die gesetzlichen Pflichtverteidigergebühren als unzureichend empfindet und daher nur ein “ethisches Minimum” an Verteidigungsarbeit zu leisten bereit ist, ziemlich sicher nicht glücklich werden.

Ist es möglich, bereits während des Ermittlungsverfahrens einen Pflichtverteidiger zu erhalten?

Wenn es sich bei Ihrem Verfahren um einen Fall der notwendigen Verteidigung handelt, haben Sie das Recht, jederzeit, also auch schon während des laufenden Ermittlungsverfahrens, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu verlangen. Leider ist die Rechtslage so, dass die Beiordnung im Ermittlungsverfahren nur auf Antrag erfolgt - Sie müssen also von sich aus aktiv werden und einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers stellen. Andernfalls erhalten Sie erst nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens/Anklageerhebung einen Pflichtverteidiger. Nur in Ausnahmefällen, z.B. wenn es um die Anordnung von Untersuchungshaft geht, sieht das Gesetz eine sofortige und antragsunabhängige Pflichtverteidigerbestellung schon im Ermittlungsverfahren/vor Anklageerhebung vor (§ 141 Abs. 2 StPO).

Von der Möglichkeit, auf Antrag bereits im laufenden Ermittlungsverfahren einen Pflichtverteidiger zu erhalten, sollten Sie unbedingt Gebrauch machen. Denn Strafverteidigung ist umso effektiver, je früher sie im Verfahren einsetzt. Dies ist nicht nur eine Binsenweisheit, sondern auch durch wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig belegt.

Was kostet ein Pflichtverteidiger?

Das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) – die gesetzlich normierte Honorarordnung für Rechtsanwälte – unterscheidet bei den Gebühren des Verteidigers zwischen Pflicht- und Wahlverteidigung. Die Gebühren des Pflichtverteidigers sind auf eine bestimmte Summe festgelegt und deutlich geringer als diejenigen, die ein Wahlverteidiger auf Grundlage des RVG abrechnen kann und wird.

Allerdings sind längst nicht alle Strafverteidiger bereit, zu den relativ niedrigen gesetzlichen Pflichtverteidigergebühren zu arbeiten. Viele Anwälte bestehen, wenn sie als Pflichtverteidiger tätig werden sollen, auf eine Zuzahlung, die der Mandant selbst aufzubringen hat. Ob die Bereitschaft zur Übernahme von Pflichtverteidigungen besteht bzw. zu welchen Konditionen, sollten Sie daher vorab abklären.

Wer bezahlt den Pflichtverteidiger?

Der Pflichtverteidiger erhält sein Honorar zunächst aus der Staatskasse. Dabei handelt es sich allerdings nur um eine vorläufige Übernahme der Kosten. Die Frage, wer die Kosten der Pflichtverteidigung letztlich zu tragen hat, ist abhängig vom Verfahrensausgang. Werden Sie freigesprochen oder wird das Verfahren eingestellt, verbleiben die Kosten bei der Staatskasse. Werden Sie verurteilt, haben Sie für die Kosten der Pflichtverteidigung (ebenso wie für die sonstigen Verfahrenskosten) aufzukommen. Die Staatskasse ist dann berechtigt, die verauslagten Kosten zurückzufordern. Einkommensschwachen Verurteilten werden in der Regel Zahlungserleichterungen gewährt (Ratenzahlung).