Strategie

Hinterfragen

In strafrechtlichen Ermittlungs- und Gerichtsverfahren geschehen die meisten Fehler nicht aus Mutwilligkeit oder böser Absicht der Beteiligten. Richter, die morgens aufstehen und sich denken: “Heute verurteile ich mal einen Angeklagten zu Unrecht” dürften ganz sicher die Ausnahme darstellen. Zu Fehlern kommt es aber häufig deshalb, weil die verschiedenen Beteiligten – von der Polizei, über die Staatsanwaltschaft bis hin zum Gericht – sich unbewusst zu sehr aufeinander verlassen in dem Vertrauen, die vorherig mit der Sache betrauten Personen werden ihre Arbeit schon korrekt erledigt haben (“Die werden sich schon etwas dabei gedacht haben”). Ungeprüfte Annahmen werden von einem Beteiligten unkritisch übernommen und so an den nächsten weitergetragen, der seinerseits wiederum auf genau die gleiche Weise verfährt und so weiter und so fort. Auf diese Weise können mitunter auch sehr triviale Fehler, die in der Rückschau, wenn sie dann einmal aufgedeckt wurden, kaum mehr verständlich erscheinen, sich langsam und unmerklich tief in ein Verfahren einschleifen. Dieser Mechanismus ist sehr menschlich und wohl leider auch unvermeidbar. Die Rolle des Strafverteidigers ist es deshalb, mit unvoreingenommenem und kritischem Blick nach Fehlern zu suchen und dabei gerade auch das vermeintlich Selbstverständliche zu hinterfragen.

Agieren statt Reagieren

Die Hauptverhandlung bildet zweifellos das Herzstück des Strafprozesses und besitzt eine sehr viel größere Relevanz als beispielsweise im Zivilprozess, wo der Streitstoff durch vorbereitende Schriftsätze so ausführlich aufbereitet und „vorbehandelt“ wird, dass für den mündlichen Verhandlungstermin oft nur noch wenig zu verhandeln übrig bleibt. Nichtsdestotrotz: Auch im Strafrecht wird das Fundament für den Erfolg in der Hauptverhandlung bereits vor deren Beginn gelegt. Es ist von entscheidender Bedeutung, der Staatsanwaltschaft frühzeitig die alleinige Deutungshoheit zu entziehen, ihrem Anklagekonstrukt mit seinen Hypothesen, Schlussfolgerungen und Bewertungen eine alternative Lesart des Falles (“Gegennarrativ”) gegenüberzustellen und dem Gericht ein mindestens gleichwertiges „Interpretationsangebot“ für die Hauptverhandlung an die Hand zu geben. Fehlt dieser Zwischenschritt, weil auf Verteidigungsschriften im Vorverfahren weitestgehend verzichtet wird bzw. werden diese nur halbherzig und pro forma abgegeben werden, besteht aus meiner Sicht die große Gefahr, dass das Gericht die Hauptverhandlung ausschließlich „durch die Linse der Anklage“ betrachten wird.

Den richtige Ton treffen

Das Gericht ist entgegen manch reißerischer Behauptung nicht per se der Feind und Strafrecht ist auch kein “Krieg”. Der Strafprozess ist eine Verhandlung und wie in jeder Verhandlung tut man als Verhandler gut daran, einen moderaten und von Respekt geprägten Tonfall gegenüber der Gegenseite zu pflegen. Es gilt auch hier das bewährte Prinzip: „Sei hart in der Sache, aber weich zu den Menschen“. Von Konfliktverteidigung – also dem Suchen der Konfrontation mit dem Gericht um des Konfliktes willen – halte ich nichts. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass es im Einzelnen immer wieder Situationen gibt, in denen man sehr wohl energisch dagegenhalten und Gericht sowie Staatsanwaltschaft selbstbewusst ins Gesicht sagen können muss, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Zusammenhänge erklären

Während wir bei unseren eigenen Entscheidungen die Nuancen, die Umstände, die Schwierigkeiten in der Regel sehr deutlich vor Augen haben, sehen wir bei anderen oft nur das Ergebnis ihrer Entscheidungen. Dies führt dazu, dass wir Personen, die „Schlimmes“ getan haben, immer wieder nur durch einen einzigen Begriff definieren: Mörder, Vergewaltiger, Dieb, Lügner, Psychopath. Dies sind Etiketten, die wir anderen aufgrund unserer Vorstellung davon verpassen, wer sie angesichts ihres Verhaltens sein müssen. Wir schließen von einem einzelnen grenzverletzenden Verhalten einer Person auf den gesamten Charakter dieser Person.

Gerade in den Fällen der Strafmaßverteidigung – also jenen Fällen, in denen nach einer realistischen Einschätzung ein Freispruch nicht zu erreichen ist, weil die Beweislage eindeutig ist – besteht die Aufgabe des Strafverteidigers darin, diesem letztlich sehr menschlichen Automatismus Einhalt zu gebieten. Er hat überschießendem Bestrafungseifer entgegenzutreten und sich dafür einzusetzen, dass die angeklagte Tat in ihrem Gesamtkontext gewürdigt, für den Angeklagten sprechende Umstände ausreichend berücksichtigt und über dessen Person in einer Weise gesprochen wird, die seiner Vielschichtigkeit gerecht wird, um auf diese Weise ein maßvolles Urteil zu erreichen, das dessen individueller Schuld entspricht.

Die eigene Rolle kennen

Das „Schwert“ des Strafverteidigers ist neben seinem juristischen Wissen vor allem seine Fähigkeit zur Argumentation und Überzeugung. Sein gesamtes Wirken dreht sich letztlich darum, eine dritte Person – Staatsanwaltschaft und Gericht – in einem kommunikativen Austausch von bestimmten Tatsachen und Sichtweisen zu überzeugen und bei ihren Bewertungen in eine bestimmte Richtung zu “lenken”.

Dabei ist die beste hinter dem Schreibtisch ausgeklügelte Strategie wenig wert, muss man in der Verhandlung alsbald feststellen, mit ihr beim Adressaten auf taube Ohren zu stoßen. Eine Verteidigungsstrategie ist nicht deshalb gut, weil sie inhaltlich richtig ist, sondern weil sie funktioniert, das heißt: ihre gewünschte Wirkung erzielt. Wer auf eigentlich schon verlorenem Posten beharrlich auf seiner Position weiter insistiert und keinen “Plan B” hat oder entwickeln kann, riskiert, dass ihm gar nicht mehr zugehört wird und verbaut sich weitere Handlungsmöglichkeiten.