Haftrecht (Untersuchungshaft)
Bei der Untersuchungshaft handelt es sich zweifellos um den intensivsten Eingriff in die Grundrechte eines Beschuldigten, den die Strafprozessordnung vorsieht. Neutral ausgedrückt handelt es sich um eine „verfahrenssichernde Ermittlungsmaßnahme“, mit der verhindert werden soll, dass sich ein Tatverdächtiger dem Verfahren entzieht oder beweisvereitelnde Handlungen vornimmt, wie etwa Zeugen zu beeinflussen oder Beweismittel zu vernichten. Pointierter lässt sich – mit den Kritikern des Instruments der Untersuchungshaft – von „legaler Freiheitsberaubung an einem Unschuldigen" sprechen.
Wird ein Beschuldigter durch die Polizei vorläufig festgenommen oder aufgrund eines bereits bestehenden richterlichen Haftbefehls verhaftet, muss er unverzüglich, spätestens am nächsten Tage, einem Richter vorgeführt werden. Dieser sogenannte Vorführtermin, in dem über die Anordnung bzw. (weitere) Vollstreckung von Untersuchungshaft entschieden wird, darf nicht ohne einen Verteidiger durchgeführt werden, sodass dem noch unverteidigten Beschuldigten ein Pflichtverteidiger bestellt werden muss. Der Beschuldigte hat das Recht, seinen Pflichtverteidiger selbst auszuwählen.
Tiefer Einschnitt in gewohntes Leben
Für die allermeisten Betroffenen kommt ihre Verhaftung plötzlich und unerwartet. Anders als der rechtskräftig Verurteilte bzw. Strafgefangene wird der Untersuchungsgefangene vom einen auf den anderen Moment abrupt aus seinem gewohnten Leben gerissen, ohne zuvor Gelegenheit gehabt zu haben, sich innerlich auf die Zeit in Haft einzustellen und ggfs. notwendige organisatorische Vorbereitungen zu treffen. Sie trifft den Betroffenen sozusagen “mit voller Wucht”. Dies ist einer der Gründe, warum Untersuchungshaft vielfach als deutlich belastender empfunden wird als Strafhaft.
Insbesondere die ersten Tage nach der Verhaftung sind für die Betroffenen und ihr familiäres sowie soziales Umfeld extrem belastend. Dies liegt auch daran, dass der Kontakt zu einem Untersuchungsgefangenen alles andere als einfach ist. Zwar sind Haftbesuche für Angehörige und Freunde in der Regel möglich, jedoch nur in sehr begrenztem Umfang und unter strengen Einschränkungen. Ein ungehinderter Zugang zum Beschuldigten ist nur dem Verteidiger möglich.
Wie Sie als Angehöriger oder Freund mit einem Untersuchungsgefangenen in Kontakt treten und bleiben können, erfahren Sie hier. Die dortigen Ausführungen beziehen sich auf die JVA Moabit (Berlin), gelten jedoch im Wesentlichen für alle Untersuchungsgefängnisse gleichermaßen.
Voraussetzungen der Untersuchungshaft
Untersuchungshaft darf nur aufgrund eines durch einen Richter erlassenen Haftbefehls vollstreckt werden. Ein Haftbefehl dar nur ergehen, wenn nachfolgende Voraussetzungen erfüllt sind:
es besteht ein dringender Tatverdacht,
ein Haftgrund, wie z. B. Flucht, Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr liegt vor und
die vorgeworfene Tat ist so schwer, dass sie Untersuchungshaft rechtfertigt (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).
Die einzelnen Voraussetzungen im Detail
Dringender Tatverdacht
Ein „dringender Tatverdacht” setzt voraus, dass bei vorläufiger Würdigung der bisherigen Ermittlungsergebnisse (“Aktenlage”) eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte die ihm angelastete Straftat begangen hat und ein Gericht nach Durchführung der Hauptverhandlung zu einer Verurteilung gelangen wird. In der Praxis stellen Gerichte an diese Überzeugung nur geringe Anforderungen. Eine hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit wird eher unkritisch und allzu großzügig angenommen.
Haftgrund
Zu den Haftgründen zählen Flucht, Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr und Wiederholungsgefahr.
Der in der Praxis mit Abstand am häufigsten angenommene Haftgrund ist die Fluchtgefahr. Von Fluchtgefahr ist auszugehen, wenn die Umstände des Falles es wahrscheinlicher erscheinen lassen, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen wird, als dass er sich ihm stellt. Bei der somit erforderlichen Prognose kommt der Höhe der Straferwartung in der Praxis zentrale Bedeutung zu. Im Falle erheblicher Freiheitsstrafen im nicht bewährungsfähigen Bereich wird von vielen Gerichten de facto eine „Vermutung pro Fluchtgefahr“ angenommen. Je höher die im konkreten Fall drohende Strafe ist, desto stärker fällt diese Vermutung aus und desto schwerer ist es, sie zu entkräften bzw. desto höher die Anforderungen an die "entgegenwirkenden Faktoren" (enge familiäre, soziale oder berufliche Bindungen usw.), die vorgebracht werden müssen, um die Vermutung auszuräumen.
Wenn Tatsachen die Annahme begründen, dass der Beschuldigte auf Beweismittel einwirkt und dadurch die Ermittlungen erschwert, so liegt der Haftgrund der Verdunklungsgefahr vor. Daher sollten Beschuldigte den Kontakt zu Zeugen möglichst vermeiden, da auch das unverfängliche oder gut gemeinte Gespräch schnell einen falschen Eindruck erwecken und dann zur Verhaftung führen kann.
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Der Erlass eines Haftbefehls ist dann unverhältnismäßig und damit unzulässig, wenn die Untersuchungshaft außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Straferwartung steht. Das ist auch dann der Fall, wenn der Zweck der Untersuchungshaft auch mit weniger einschneidenden Maßnahmen erreicht werden kann. Hierunter fallen etwa die Erteilung einer Meldeauflage, die Abgabe des Reisepasses oder die Stellung einer Kaution.
Der Haftbefehl
Die Untersuchungshaft wird durch einen schriftlichen Haftbefehl des Richters angeordnet. Im Ermittlungsverfahren ist in den meisten Fällen der Amtsrichter als Ermittlungsrichter zuständig, der auf Antrag der Staatsanwaltschaft tätig wird. Nach Erhebung der Anklage liegt die Zuständigkeit bei dem mit der Sache befassten Gericht.
Aus dem Haftbefehl müssen sich ergeben:
der Beschuldigte
die Tat, derer er dringend verdächtig ist
Tatzeit und Tatort
die gesetzlichen Merkmale der Straftat
die anzuwendenden Strafvorschriften
der Haftgrund sowie
die Tatsachen, aus denen sich der dringende Tatverdacht und der Haftgrund ergeben.
Wie wehrt man sich gegen einen Haftbefehl? – Haftprüfung und Haftbeschwerde
Gegen den Haftbefehl kann eine Haftprüfung beantragt oder Haftbeschwerde einlegt werden.
Im Rahmen der Haftprüfung wird geprüft, ob der Haftbefehl aufzuheben oder dessen Vollzug auszusetzen ist. Über den Antrag auf Haftprüfung entscheidet das Gericht, das den Haftbefehl erlassen hat. Die Verhandlung findet auf Antrag oder wenn der Richter dies für sachdienlich hält mündlich statt. Der Antrag kann jederzeit und wiederholt gestellt werden. Der Beschuldigte kann jedoch nicht jedes Mal eine mündliche Verhandlung herbeiführen.
Gegen einen Haftbefehl kann auch eine Haftbeschwerde eingelegt werden. Die Beschwerde führt zur Überprüfung des Haftbefehls in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht. Die Beschwerde wird, soweit ihr nicht durch den das Gericht, das den Haftbefehl erlassen hat, abgeholfen wird, dem nächsthöheren Gericht zur Entscheidung vorgelegt. Mit der Beschwerde kann auch die Vollstreckung der Untersuchungshaft ausgesetzt werden.
Neben dem Antrag auf Haftprüfung ist die Haftbeschwerde unzulässig. Der Beschuldigte kann also nicht beide Wege gleichzeitig beschreiten.
Welcher Rechtsbehelf im konkreten Einzelfall zweckmäßig ist, lässt sich nicht pauschal beantworten.
Eine Haftprüfung bietet sich an, wenn sich die tatsächlichen Umstände verändert haben, das heißt, wenn neue entlastende Tatsachen oder Beweise bekannt geworden sind.
Die Haftbeschwerde hat den Vorteil, dass ein höheres Gericht den Haftbefehl überprüft. Sie bietet sich insbesondere dann an, wenn sich das Vorbringen gegen den Haftbefehl auf die vorläufige Würdigung der Beweislage bezieht, das heißt, wenn argumentiert wird, dass die vorhandenen Beweise keinen „dringenden Tatverdacht“ begründen.
Dauer der Untersuchungshaft
Die Dauer der Untersuchungshaft hängt vom Verfahren und dessen Umfang ab. Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Daher werden Verfahren mit Beschuldigten in Untersuchungshaft regelmäßig besonders schnell bearbeitet („Beschleunigungsgrundsatz“). Eine Garantie dafür, dass das Verfahren in einem halben Jahr abgeschlossen ist, kann es jedoch nicht geben. Unter außergewöhnlichen Umständen können Beschuldigte und Angeklagte mehrere Jahre in Untersuchungshaft verbleiben. Hier ist es die Aufgabe des Verteidigers, unnötige Verfahrensverzögerung zu verhindern.
Entschädigung bei zu Unrecht erlittener Untersuchungshaft
Im Falle eines Freispruchs oder wenn das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnt, können Beschuldigte die ihnen durch Ermittlungsmaßnahmen entstandenen Schäden ersetzt verlangen. Hierzu zählen neben möglichen Einbußen durch die Beschlagnahme von Gegenständen auch Gehaltsausfälle und die durch die Haft verlorene Freiheit. Die Höhe der Entschädigung ist auch nach der jüngsten Reform noch unangemessen niedrig. Für jeden angefangenen Tag der Freiheitsentziehung steht dem Betroffenen ein Entschädigungsanspruch in Höhe von 75 € zu.
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Die Justizvollzugsanstalt Moabit ist Berlins Gefängnis für erwachsene Männer in Untersuchungshaft. Die überwiegende Mehrheit der Untersuchungsgefangenen (U-Gefangene) wird dorthin verbracht. Nachfolgend finden Sie alle Informationen, um als Angehöriger oder Freund mit einem U- Gefangenen in der JVA Moabit in Kontakt zu treten und zu bleiben.
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Pflichtverteidigerwechsel bei Untersuchungshaft
Ein in Untersuchungshaft genommener Beschuldigter kann einen ihm vom Gericht zugeteilten Pflichtverteidiger in der Regel problemlos wechseln. Voraussetzung ist lediglich ein entsprechender Antrag auf “Umbeiordnung” innerhalb von drei Wochen nach der Pflichtverteidigerbestellung im Vorführungstermin.
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Festnahme/Verhaftung: Verhalten im Notfall
In der Ausnahmesituation einer Festnahme oder Verhaftung durch die Polizei sollten Sie unbedingt darauf bestehen, nichts ohne einen Anwalt zu sagen. Machen Sie nicht den leider häufig zu beobachtenden Fehler, sich unter dem Schock der Festnahme zu spontanen Äußerungen hinreißen zu lassen. Voreilige Geständnisse oder aus der Hüfte geschossene Rechtfertigungen gehen nahezu immer nach hinten los und sind nicht selten das eigentliche Fundament für die spätere Verurteilung. Schweigen ist Gold. Wer schweigt, macht keine Fehler.